Volvo: 30 Jahre Kombi 850
Sichere Familienkombis in kantigen Knäckebrot-Konturen, robust wie Bohus-Granit und mit viel Platz für Ikea-Möbel oder eine fröhliche Kinderschar aus Småland: So mussten Volvo Kombis sein – bis 1993.
Sichere Familienkombis in kantigen Knäckebrot-Konturen, robust wie Bohus-Granit und mit viel Platz für Ikea-Möbel oder eine fröhliche Kinderschar aus Småland: So mussten Volvo Kombis sein – bis 1993.
Dann brach der Volvo 850 einer neuen skandinavischen Kombi-Ära auf furiose Art freie Bahn, als „Polar-Wolf im Schafspelz“, „sportlichstes und schnellstes Fahrzeug seiner Art auf dem ganzen Planeten“, „weltweite Sensation mit Frontantrieb und Fünfzylinder-Motor“, wie das Volvo-Marketing und Fachmedien unisono tönten. Allerdings waren einige Lobeshymnen übertrieben, schließlich gab es die Kombination Fünfzylinder und Frontantrieb bei Audi schon seit Jahren. Auch die Formensprache des Volvo 850 zeigte sich erst auf den zweiten Blick als innovativ, blieb der in Nordamerika sogar als „Sportswagon“ beworbene Kombi doch ein kantiger Klotz. Dies nun allerdings mit keilförmigerer Front, markanter Motorhaube mit integriertem Kühlergrill, ungewohnter Grafik der Seitenfenster und vertikalen, bis ins Dach reichenden Heckleuchten. Ein Stilelement, das später andere Hersteller adaptierten und das dazu beitrug, dass der Volvo 850 in Italien als erster Kombi einen speziellen Medien-Award erhielt: „Schönstes Auto der Welt 1993“. Mehr Lob für einen Familienlaster ging nicht. Also tatsächlich eine neue Ära für die Schweden. Dazu passten zukunftsweisende Turbo-Triebwerke, die den Volvo 850 Kombi für Renneinsätze prädestinierten.
Klar, die Medienauszeichnung „Volvo 850: Sicherstes Auto der Welt“, durfte nicht fehlen. Tradition verpflichtet eben, und der Volvo 850 löste dieses Sicherheitsversprechen durch mehrere Weltneuheiten ein: Neben automatisch höheneinstellbaren Sicherheitsgurten für die Vordersitze kam erstmals ein
Seitenaufprall-Schutzsystem namens SIPS zum Einsatz, das die Aufprallkräfte bei einem Seitencrash erfolgreich über die gesamte Karosseriestruktur ableitete und deshalb in allen neuen Volvo-Modellen Standard wurde. Auch Seitenairbags erhielt der Volvo 850 im Jahr 1995 als erstes Serienauto. Der laut Werbung „weltsicherste Kombirücksitz“ bot Dreipunkt-Gurte erstmals auf dem Mittelplatz, inklusive Kindersitzkissen. Und 1996 legten die Schweden auf der Antriebsseite nach: Als erster Pkw des Göteborger Autobauers reduzierte der Volvo 850 AWD durch permanenten Allradantrieb das Gefahrenpotential vereister und verschneiter Fahrbahnen. So avancierte der von einem 142 kW/193 PS starken Fünfzylinder-Benziner beschleunigte Volvo 850 AWD zum Vorboten der bis heute angebotenen Volvo-XC-Modelle.
Überhaupt die Fünfzylinder-Motoren, mit diesen Meilensteinen nordischer Ingenieurskunst verstand es der Volvo 850 Kombi ebenfalls, Akzente zu setzen – und sich nicht nur auf seinem Heimatmarkt als Nachfolger des lange unsterblich geglaubten Volvo 240 in die Herzen der kühlen Skandinavier zu brennen. Der letzte Volvo 240 wurde am 5. Mai 1993 mit dem Stopp des Fertigungsfließbandes ins Museum geschickt, nachdem er zuvor Geschichte geschrieben hatte als erstes in über 2,5 Millionen Einheiten gebautes schwedisches Volksauto, sicherstes Fahrzeug Amerikas, oder schlicht als „der Volvo unter allen Volvo“. So hatte der über Jahrzehnte gebaute Volvo 240 sogar seinen ersten designierten Nachfolger, den Typ 740, überlebt. Nun kam der Volvo 850 mit Kanten als Reminiszenz an den „fliegenden Ziegelstein“ vom Typ 240, vor allem aber mit bahnbrechender technischer Modernität sowie frischem Fahrspaß, wie er damals sonst bei BMW, Mercedes oder Audi vermutet wurde. Erst jetzt war es für den Volvo 240 endgültig Zeit abzutreten.
Gegenüber den Konkurrenten Audi 100/A6 Avant, BMW 5er Touring und Mercedes E-Klasse T-Modell brachte der 850 Kombi einen entscheidenden Kostenvorteil mit, denn nur Volvo verzichtete in Deutschland auf einen Preisaufschlag für den Fünftürer gegenüber der vergleichbaren Limousine. Mit den neuen Fünfzylinder-Motoren – übrigens erstmals quer eingebaut – versprach sich Volvo ebenfalls Vorsprung, speziell gegenüber den Deutschen, so dass der 850 die Fünf im Modellcode trug. Vom relativ billigen Basis-Benziner über Diesel-Direkteinspritzer bis zu den bis dahin stärksten nordischen Turbos – in Nordamerika als „Thunder Wagon“ und „Hot-rod-Volvo“ beworben – war alles dabei, was die in neuem Werk in Gent/Belgien gebauten Schweden-Kombis begehrenswert machen konnte. Dazu zählte 1994 auch die Rückkehr von Volvo auf Rennstrecken, zunächst in der British Touring Car Championship (BTCC). Die Zuschauer trauten ihren Augen nicht, als die wilden Wikinger mit den ersten beiden Renn-Tourenwagen in Kombi-Karosserie antraten. Anfangs belächelten einige gegnerische Rennteams die Volvo 850 Kombis noch, aber dann avancierten die vom Schweden Rickard Rydell und dem Niederländer Jan Lammers gefahrenen Kombis zu gefürchteten Herausforderern in der hart umkämpften Tourenwagenserie – so sehr, dass schon 1995 eine Reglementänderung den erneuten Start des Volvo 850 in Kombiform verhinderte.
Street-Racing-Qualitäten und das Potential zum Porsche-Jäger bot überdies der Volvo 850 T5-R Kombi mit 176 kW/240 PS starkem Fünfzylinder-Turbo, der in limitierter Auflage gebaut wurde. Zuteilungsreife Kaufverträge wurden im Kleinanzeigenmarkt mit Aufschlag angeboten, vor allem wenn es sich um einen der heiß begehrten signalgelben T5-R Turbos handelte, von Fans „T-yellow“ oder auf Schwedisch „T-Gul“ genannt. Ging da noch mehr? Aber sicher, gab Göteborg allen Leistungsfetischisten zu verstehen und legte den Volvo 850 R mit 184 kW/250 PS auf. Damit etablierte sich der Polarexpress endgültig als Alternative zu den sportlichsten deutschen Lifestyle-Lastern. Schon seit 1994 war in Deutschland jeder zweite verkaufte Volvo ein 850 (mehrheitlich als Kombi), vor allem aber belegte die Baureihe in Schweden Platz eins der Zulassungsstatistik. Im nationalbewusst kaufenden Königreich eine Sensation, schließlich wurde der 850 in Belgien gebaut.
Und für Volvo eine willkommene Belohnung für die größte Entwicklungsinvestition in der schwedischen Industriegeschichte, denn die Konstruktion des Modells 850 nahm bereits 1978 ihren Anfang und währte 15 Jahre, bis die Baureihe 1993 mit Limousine und Kombi komplett war. Zusammen mit den 1997 lancierten Facelift-Typen Volvo S70 und V70 wurden von der Baureihe in neun Jahren 1,28 Millionen Einheiten ausgeliefert, jeder zweite davon war ein Kombi. Trotz dieses Erfolgs verlor Volvo jedoch 1999 seine Unabhängigkeit, das schwedische Vorzeigeunternehmen kam damals unter das Dach von Ford, nachdem zwei andere Fusionsversuche mit Saab und Renault gescheitert waren. Mit den eckigen und kubischen Designs war es ab der Jahrtausendwende für Volvo ebenfalls vorbei, auch deshalb zählt der kantige 850 längst zu den besonders gesuchten familientauglichen Youngtimern und Klassikern.
2023 dürfen sich die ersten Exemplare des Volvo 850 Kombi mit einem H-Kennzeichen schmücken – wenngleich ihre Sicherheitsausstattung und ihr Fahrspaß-Potential modern wirken und nicht “oldiemäßig” anmuten.
Fotos: Volvo