Mit einem Charaktergesicht, das böswillige Kritiker damals mit der zerknautschten Front eines Unfallfahrzeugs verglichen und einer „Z-Linie mit inversem Rückfenster verlangte der Ami 6 vom Betrachter ähnlich viel Freigeist wie der minimalistische Citroën 2 CV, mit dem er sich wesentliche technische Komponenten teilte. Und dennoch avancierte der Ami 6 zum zeitweise populärsten Auto Frankreichs. Wie das? Tatsächlich war es Citroëns Starcouturier Flaminio Bertoni, der nach dem 2 CV von 1948 und dem Citroën DS von 1955 auch den Ami 6 designte – und als passionierter Bildhauer jede Karosserie wie ein provozierendes Kunstwerk kreierte. Genau deshalb, erläuterte Bertoni in Interviews, dauerte es mehrere Jahre, bis seine skulpturalen Autodesigns verstanden wurden, um dann begeisterte Anerkennung zu finden. Bertonis Lieblingsentwurf, der Ami 6, gönnte sich sogar fünf Jahre, bis er die Spitze der gallischen Zulassungscharts eroberte – und inklusive des 1969 vorgestellten Evolutionstyps Ami 8 blieb die in 1,8 Millionen Einheiten gebaute Modellreihe fast zwei Jahrzehnte aktuell, ehe Citroën mit dem Visa einen kompakten Nachfolger fand.
Staatschef Charles de Gaulle, im Dienst nie ohne seine DS unterwegs, fand übrigens letztendlich ebenfalls Gefallen am Ami 6, der die gewaltige Lücke im Citroën-Programm zwischen 2 CV und DS füllen sollte. Eine Liebe auf den zweiten Blick, so wie von Flaminio Bertoni vorhergesagt. Nicht nur, dass de Gaulle an seinem französischen Feriendomizil mit dem auffälligen Viertürer gesichtet wurde, sogar Madame Yvonne de Gaulle brachte den Ami 6 in die Schlagzeilen: Bei der Publikumspremiere auf dem Pariser Salon 1961 bekam Frankreichs First Lady symbolisch einen Autoschlüssel für das Modell überreicht – denn dieser Citroën sollte speziell die Herzen der Frauen erobern. Steht das Wort Ami doch nicht nur für Freund, sondern klingt der Modellname Ami 6 französisch gesprochen wie „La missis“. Dass die exzentrische Miss Citroën ausgerechnet in England, dem größten Exportmarkt der Marke mit dem Doppelwinkel, floppte, enttäuschte die Franzosen sehr, weit mehr als das Unverständnis, mit dem die Deutschen auf das teuer eingepreiste Fräuleinwunder reagierten. Kostete der 3,87 Meter kurze Ami 6 Export doch hierzulande so viel wie ein stattlicher Ford Taunus 12 M, der fast einen halben Meter länger war und 40 kW/55 PS aus 1,2 Liter Hubraum holte, während der Citroën anfangs gerade 15 kW/21 PS generierte aus 0,6 Litern, die der Ami selbstbewusst als „6“ im Typencode aufführte.
Auch in Frankreich verlangte Citroën für die extrovertierte Linie Z einen exklusiven Preis. So war der Ami 6 kostspieliger als der ebenfalls 1961 präsentierte unkonventionelle Renault 4, der sich als schärfster Rivale zu der in einem neuen Werk in Rennes gebauten Zweizylinder-Limousine entwickelte. Im Herbst 1964 entstand schließlich der viersitzige Ami 6 Break, der fünfsitzige Break Familiale und der Commerciale als Kumpel für die Handwerker.
Schon im ersten Produktionsjahr hatte Citroën ein anderes Defizit des Ami 6 eliminiert. Das verwendete Stahlblech für das 640 Kilogramm leichte Fliegengewicht war derart dünn, dass es sich bei den auf dem Pariser Salon präsentierten Fahrzeugen verbeulte, sobald enthusiastische Messebesucher dagegen lehnten. Der Legende nach sollen die drei Ausstellungsfahrzeuge täglich getauscht worden sein, und in der Produktion wurden ab November um 40 Prozent stärkere Bleche genutzt. Den Ruf nach mehr Motorleistung für den mit maximal 105 km/h dahingleitenden, weil federweich abgestimmten Ami 6 erhörte Citroën ebenfalls und spendierte Ende 1963 immerhin 18 kW/24,5 PS. Die Kunden bedankten sich, indem sie die Jahresproduktionszahl der Limousine erstmals auf über 100.000 Einheiten trieben. Als etwas später auch noch die Kombiversion bereitstand, positionierte sich die Baureihe im Jahr 1966 auf Platz eins der französischen Zulassungsstatistik und auch die Citroën-Produktionsanlagen in Südamerika, Madagaskar und Spanien konnten zeitweise kaum die hohe Nachfrage bedienen. Sogar die Briten zeigten sich versöhnt als 1969 der Ami 8 die Linie Z in ein schickes Schrägheckdesign – aber ohne Heckklappe – übertrug und 1973 als Ami Super auf einen 40 kW/54 PS freisetzenden Vierzylinder-Boxer vertraute.
Die Karriere des Ami näherte sich 1979 nach fast zwei Jahrzehnten dem Finale, denn der im Vorjahr eingeführte Visa traf den Geschmack einer neuen Generation von Kompaktklassekäufern. Vergessen ist Flaminio Bertonis außergewöhnlicher Ami allerdings bis heute nicht. Seit 2020 sorgt dafür insbesondere der ultrakurze Elektro-Kleinstwagen Ami, mit dem Citroën wie eh und je Konventionen bricht.
Fotos: Autodrom, Citroën Kommunikation, Georges Guyot